„Der Protestantismus in Kultur und Krise der Moderne“, in: E. v. Vietinghoff u. H. May (Hg.), Protestantismus im 21. Jahrhundert. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur, Hans-Lilje-Forum Bd. 4, Hannover: Lutherisches Verlagshaus, 2000, 151-174; 2. Aufl. 2000.

Der Protestantismus hat sich gern als “Religion der Freiheit” verstanden. Die “Religion der Freiheit” sah er im Glauben gegründet. Denn im Glauben, so jedenfalls sah es der moderne Protestantismus weithin, hat jeder Mensch ein unmittelbares Verhältnis zu Gott. Dieses unmittelbare Verhältnis zu Gott verleiht jedem Menschen seine unantastbare Würde. In diesem unmittelbaren Gottesverhältnis und in der Würde jedes einzelnen Menschen aber liegt der Grund für die Gleichheit aller Menschen. In dieser substantiellen Gleichheit der Menschen wiederum wurzelt die universale Vernunft und die universale Moral. Eine großartige Vision beseelte den modernen Protestantismus: Alle Menschen sind frei und gleich; ihr Erkennen und ihr Handeln beruht auf gemeinsamer Orientierung, die aus der unmittelbaren Beziehung zu Gott erwächst, aus einer Beziehung, die im Glauben ergriffen wird. Der Protestantismus rühmte sich, die Religion zu sein, die die Erkenntnis dieser Orientierungskraft am klarsten zum Ausdruck bringt. Er verstand sich als kulturell führende Kraft, unverzichtbar, die Grundwerte der Moderne zu erhalten und zu entfalten.